N. Brucker: Apologétique 1650–1802

Cover
Titel
Apologétique 1650–1802. La nature et la grâce


Herausgeber
Brucker, Nicolas
Reihe
Recherches en littérature et spiritualité 18
Erschienen
Bern 2010: Peter Lang/Bern
Anzahl Seiten
409 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Michael Quisinsky

Wer sich den gegenwärtigen Herausforderungen der Religion im Allgemeinen und des christlichen Glaubens im Besonderen zu stellen bereit ist, wird hinter den vielfältigen Spielarten der Diskussion um die Postmoderne eine Ebene von Fragen ausmachen, die umso wirkmächtiger wurden, als sie implizit die Agenda bestimmten und z.T. weiterhin bestimmen. Mindestens ebenso aufschlussreich wie die Fragen in sich ist in diesem Sinn der Umgang mit ihnen.

In der Zeit zwischen 1650 und 1802 haben sich von Pascal bis Chateaubriand Philosophen und Theologen diesen Fragen gewidmet, die bei näherem Hinsehen bis heute nicht abgegolten sind. Vornehmlich dem französischen Sprachraum sind die im vorliegenden Band versammelten Beiträge einer 2008 in Metz abgehaltenen Tagung verschrieben, und dies in redaktionell mustergültiger Weise. Mit der Apologetik nehmen sie ein Feld in den Blick, in dem die Vernunft eine herausragende Rolle spielt. Auf ein Kapitel «Philosophie et religion de Pascal à Fénelon » folgt eines zu den «Défenseurs du christianisme, protestants et catholiques», ein weiteres widmet sich «Dialogues, débats et controverses». Ein letztes ist mit der Frage überschrieben: «Comment rendre la religion aimable»? Indem sie in gewisser Weise diese Frage vorbereiten, zeigen die in diesem Band versammelten Beiträge, dass die Vernunft, insofern sie es mit der Religion zu tun hat, nicht einfach vom gelebten Leben abstrahieren kann und deshalb in besonderer Weise auch mit emotionalen und anderen Faktoren zu rechnen hat, die nicht einfach rational zu fassen sind. In diesem umfassenden Sinn ist die Apologetik des behandelten Zeitraums ein Teil des «Glaubens», dem sich der vorliegende Band annähern will (15).

Je nachdem, ob man aus literaturwissenschaftlichem, philosophiegeschichtlichem, theologischem oder anderem Interesse das Buch zu Hand nimmt, wird man die verschiedenen in ihm behandelten Stränge und Linien unterschiedlich gewichten und bewerten. Aus einer theologisch-theologiegeschichtlichen Perspektive, die freilich von anderen Perspektiven nicht abstrahieren kann, sondern auf der Höhe der Erkenntnisse und Anliegen anderer Zugänge erfolgen muss, stellt sich mit der zentralen Stellung des Glaubensbegriffs in der Konzeption der Tagung und der Veröffentlichung die Frage, worauf dieser sich gründet und in welcher Weise er sich Geltung zu schaffen beansprucht. Der Untertitel «Natur und Gnade» ist in diesem Sinn nicht falsch, aber auch nicht die im Letzten den einzelnen Artikeln zugrunde liegende Frage. Denn wenn die menschliche Vernunft sich der mit diesen Begriffen bezeichneten Sache annimmt, übersteigt sie sich, indem sie sich auf eine Dimension beruft, die die Vernunft aus sich heraus vielleicht in einem gewissen Sinn und bis zu einem gewissen Grade erreichen kann, deren inhaltliche Füllung sie aber in einer Weise aus dieser Dimension selbst heraus zu klären beansprucht, dass sie diese Dimension als ein ihr sich mitteilendes Gegenüber begreift. M.a.W. stellt sich die Frage nach Wesen und Inhalt der Offenbarung und man kann der Meinung sein, dass dies die der Apologetik zuallerst zugrundeliegende Frage darstellt, was freilich die Bedeutung der Frage nach Natur und Gnade keineswegs abwertet. Ob und inwiefern der Gott der Philosophen der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist (vgl. diesbezüglich insbesondere auch den instruktiven Beitrag von Hélène Michon, «‹Dieu d’Abraham, d’Isaac et de Jacob, non des philosophes et des savants›: la distinction pascalienne à l’épreuve du temps»), führt mitten hinein in die Frage nach der Offenbarung. Was Antony McKenna diesbezüglich in seiner Einleitung mit dem Titel «Le dilemme de l’apologétique au XVIIIe siècle» unter Rückgriff auf die diversen Beiträge des Bandes skizziert, bezeichnet letztlich die Herausforderung für gegenwärtige Kirche und Theologie, ihre aus natürlicher Theologie sowie aus allgemeinmenschlichem Vernunftgebrauch gewonnenen Erkennntnisse in einer Weise mit der biblischen Offenbarung ins Gespräch zu bringen, dass im Idealfall, dessen Gelingen hierfür freilich gewollt sein muss, das Verständnis beider jeweils bereichert wird.

Nun will aber dieser Band nicht in erster Linie das Material für eine systematischtheologische Synthese bereitstellen, wie vorliegende Besprechung bis hierher den Eindruck erwecken könnte. Einige Autoren wehren sich auch gegen eine voreilige theologische Vereinnahmung, wenn sie auf den kulturgeschichtlichen Zugriff ihres Beitrags verweisen (so etwa Didier Masseau in seinem Beitrag «Quelques réflexions sur la crise de l’apologétique à la fin de l’Ancien Régime», hier 375). Wenn eingangs postuliert wurde, dass eine theologische Lektüre auf der Höhe der den einzelnen Beiträgen jeweils zugrundeliegenden Erkenntnisweise und -stand erfolgen
muss, so gilt es insbesondere den historischen Erkenntnisgewinn des Bandes zu würdigen. Zwar kann hier die Theologie durchaus auch kritische Anfragen an die Geschichtsschreibung stellen, zugleich aber muss sie gewichtige Anfragen, die aus den Partnerdisziplinen erwachsen, überhaupt erst in ihrer ganzen Wucht an sich heranlassen. Der höchst anregende Beitrag «Adrien Lamourette et les relations nature et grâce. Christianisation de la nature ou naturalisation du christianisme» von Caroline Chopelin- Blanc – ihr kommt das Verdienst zu, in Lamourette (1742–1794) einen Grenzgänger zwischen Aufklärung und Katholizismus der Vergessenheit zu entreissen –, kann für beides zugleich stehen, wenn auf der einen Seite etwa für eine systematisch auszuwertende theologiegeschichtliche Einordnung Lamourettes theologischerseits eine etwas differenziertere Charakterisierung von Augustinismus und Thomismus (352) zu wünschen wäre, auf der anderen Seite aber der Theologie am Beispiel des Denkens Lamourettes eine im Grunde bis heute von ihr nicht erledigte Aufgabe ins Stammbuch geschrieben wird, nämlich «de réparer les divorces consommés au XVIIIe siècle entre la nature et la grâce, la raison et la foi, la science et la théologie, et les Lumières et le catholicisme » (355). Über konkrete historische Einzelaspekte hinaus, die nach Grund und Ziel des Glaubens fragen und dies nicht zuletzt an den Grenzen kirchlicher Gewohnheiten in besonders herausfordernder Weise tun (eindringlich beschrieben im Beitrag von Jacques Marx, «Sinisation du christianisme et théologie de l’adaptation dans l’apologétique de Giulio Aleni [1582–1649]») stellt sich in diesem Sinn die Frage nach der Sprachfähigkeit im Umgang mit der Offenbarung. Genauer gesagt kann man eine Sprachlosigkeit anführen, die die Apologetik in ihrer in diesem Band dargestellten Form letztlich nicht überwinden konnte und die den Stand des Christentums als Offenbarungsreligion in der gegenwärtigen, von den Debatten der Aufklärungszeit immer noch stark grundierten, Situation mitbestimmt.

Diesen Sachverhalt illustrieren zwei Beiträge in besonderer Weise, und dies ungeachtet der Frage, welche Nuancierungen Fachleute im einen oder anderen Fall ggf. für wünschenswert erachten könnten. Zum einen ist dies die Studie von Laurence Devillairs («La voie d’une apologétique rationaliste. De Descartes à Fénelon»), die in der epochemachenden Philosophie des Descartes eine metaphysische Dimension ausmacht (87) und sein «theologisches Cogito» (90) in augustinischer Fortschreibung interpretiert. Kirche und Theologie könnten von daher, wenn im Rückblick auch nicht ohne Weiteres einen zentralen Protagonisten der neuzeitlichen Philosophiegeschichte selbst, so doch dessen Wirkungsgeschichte in einem seiner zentralen Argumente und Anliegen ernst nehmen, ohne seine Denkwege einfach zu vereinnahmen, aber auch ohne deren Ergebnisse rundheraus abzulehnen und damit das Kind mit dem Bade auszuschütten. Zum anderen ist hier der Beitrag von Laurence Macé über die römisch-vatikanische Zensur zu nennen, der sich auf erst seit wenigen Jahren zugängliche Materialien aus dem Archiv der römischen Glaubenskongregation stützen kann («Censure romaine et apologétique dans la seconde moitié du XVIIIe siècle: les enseignements du corpus voltairien»). Wenn die Forschung über die römische Zensur hervorgehoben wird, soll dies keinesfalls im Sinne einer Schuldzuwiesung, einer einseitigen gar, erfolgen. Aber dennoch drängt sich die Frage auf, ob Kirche und Theologie langfristig nicht mehr davon profitiert hätten (und zwar im Sinne ihres eigenen evangeliumsgemässen Anspruchs an eine Glaube und Vernunft vermittelnde Theologie), wenn z.B. weniger die sprachliche Form der kritisierten Schriften übernommen worden wäre (vgl. 293f., 302f.), als vielmehr deren inhaltliche Herausforderungen ernst genommen worden wären und zwar nicht nur im Modus der Kritik. Nebenbei bemerkt ist dies ein Sachverhalt, der gerade im Internetzeitalter für Kirche und Theologie von unmittelbarer Aktualität ist. Zudem kann man sich aus heutiger Sicht fragen, ob nicht zahlreiche damals von Voltaire u.a. vehikulierten Fragen und verfochtenen Thesen heute in einer Weise zu einem Allgemeingut geworden sind (durchaus auch in verflachter Form), dass offensichtliche und unterschwellige Begründungsschwierigkeiten als solche gar nicht mehr wahrgenommen werden und Kirche und Theologie deshalb noch immer mit Fragen konfrontiert sind, die sie ursprünglich ignorieren wollten.

Von «Natur und Gnade» ausgehend erwiesen sich Offenbarung und Vernunft, Glaube und Wissen, Kirche und Welt als zusammenhängende und in diesem Zusammenhang letztlich verwandte, wenn auch nicht identische Begriffspaare. Dasselbe gilt auch für systematische und historische Theologie, und darüberhinaus auch für Theologie und Geschichtswissenschaft in ihrer Gesamtheit, wie dieser Band, z.T. möglicherweise gar nicht beabsichtigt, beweist. Dass in der katholischen Theologie an die Stelle der Apologetik die dialogischer und bei aller Kritikfähigkeit konstruktiver ausgerichtete Fundamentaltheologie treten konnte, stellt auf der Basis eines wie in diesem Bande erfolgten gelungenen Einblicks in eine geschichtliche Phase der Apologetik einen in seiner Reichweite kaum zu überschätzenden Meilenstein für die gegenwärtige Kirche und Theologie dar, auch wenn die Herausforderungen des Glaubenslebens und Glaubensdenkens früherer geschichtlicher Phasen damit noch längst nicht abgegolten sind.

Zitierweise:
Michael Quisinsky: Rezension zu: Nicolas Brucker (Ed.), Apologétique 1650–1802. La nature et la grâce. Préface d’Anony McKenna, Bern, Lang, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 697-700.

Redaktion
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in
Weitere Informationen
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit